Im Werk Hermann Bahrs findet sich auch abseits von Texten wie "Selbstbildnis" oder "Selbstinventur" explizit Autobiographisches. Nicht selten sind diese ausgearbeiteten, zu Lebzeiten publizierten Texte mit privaten Tagebuchnotizen unvereinbar: Hier zwei kurze Beispiele für autobiographische Fiktionen im engeren Sinn:
Die Geschichte seiner Krankheit zwischen 1903 und 1904, die Bahr wiederholt erzählt ("Dalmatinische Reise", "Selbstinventur", "Selbstbildnis", "Zauberstab" u.a.), hat in ihrer offiziellen Version die Gestalt einer Rebellion vitaler Bedürfnisse gegen medizinische Vernunft: Bahr gibt an, seine Ärzte in Marbach durch seine Abreise in den Süden, ans Meer, vor den Kopf gestoßen, gegen deren Ratschläge gehandelt, sich aber gerade damit gleichsam selbst geheilt zu haben. Die relevante Stelle im Tagebuch Bahrs (vom 23. Februar 1904) zeigt jedoch ein anderes Bild. Bahr schriebt hier: "Zeige Dr. Hornung an, daß ich Ende der Woche nach Abbazia will. Er meint auch, die Seeluft würde mir gut tun, noch besser vielleicht eine längere Seereise." (Hermann Bahr: Tagebücher, Skizzenhefte, Notizbücher. Bd. 4, 1904-1905. Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2000, 23.)
Auch im Fall der journalistischen Arbeit Bahrs für "Die Gleichheit" könnte es sich um eine bewusste Fiktion des eigenen Lebens handeln. Ab der ersten Nummer (11.12.1886) und für einen Zeitraum von einem knappen Jahr ist Bahr im Redaktionsteam von Viktor Adlers Zeitschrift. Er schreibt Anonym oder mit dem Kürzel "H–R". Mit dem Beginn des Militärjahres am 1. Oktober 1887 endet jedoch aller Wahrscheinlichkeit nach seine Mitarbeit. Bei der im "Selbstbildnis" gebrachten Anekdote, dass er während des Militärjahres für die "Gleichheit" schrieb, dürfte es sich wohl um eine historische Verklärung handeln. Er berichtet von der Zeit auch in seinem "Tagebuch" vom 7. Januar 1918 im Nachruf auf Pernerstorfer. Womöglich hat er noch Zeit in der Redaktion verbracht, doch zuordenbar ist das nicht mehr.
Es ist mittlerweile allgemein anerkannt, dass der Verstand lebt und Erinnerungen nichts Konstantes sind. Umso augenscheinlicher wird das bei Bahr, wenn man neben den zwei genannten Beispielen und die Lebhaftigkeit seines Positionswechsels einbeziehend, versucht, seine Haltung zur Schulzeit zu vergleichen:
Diese beiden Empfindungen sind in mir automatisch miteinander verbunden: Verachtung und Dankbarkeit, wenn ich ans Gymnasium denke. Es ist die schrecklichste Zeit meines Lebens gewesen, ja die einzige, in der mir das Leben schrecklich war, so sehr, daß ich seitdem den Selbstmord begreifen kann.Erziehung in: Inventur (1912), 109. Ähnliches auch in einer Umfrage, ebenfalls 1912:
Ich könnte über meine "Schülerjahre" nichts sagen, als daß sie die schlimmste Zeit meines ganzen Lebens gewesen sind, die einzige, die ich um gar keinen Preis noch einmal erleben möchte, und daß ich mich auch heute noch der heftigsten Erbitterung nicht erwehren kann, wenn ich an jene tückischen, von Neid gequälten Idioten denke, die man Lehrer nennt.In: Alfred Graf, Hg.: Schülerjahre. Erlebnisse und Urteile namhafter Zeitgenossen. Berlin-Schöneberg: Fortschritt (Buchverlag der "Hilfe") 1912, 181. Im Jahr 1931 antwortet Bahr auf eine Umfrage:
Die Schule hat entscheidend auf mich eingewirkt, die Bedürfnisse meiner Eigenart erkannt und entwickelt, schon die Volksschule in meiner Vaterstadt Linz, gar aber das Salzburger Gymnasium, wo Josef Steger, unser Lehrer in Griechisch, mich auf den Weg zu mir selbst, zur Entfaltung meiner Geistesart mit milder, doch unwiderstehlicher Macht zu lenken wußte.Schule und Elternhaus, 7 (1930) #1, 3-7, hier 4.