1979, in seiner Neuausgabe von Hermann Bahrs "Der Antisemitismus. Ein internationales Interview" im Jüdischen Verlag wies Hermann Greive auf die italienischen Interviews hin, die zeitgleich mit Bahrs Reihe erschienen. Er entnahm den Hinweis Bahrs Nachwort aus "Dem Antisemitismus", wo auf das Fehlen der Italiener in der Umfrage eingegangen wird:
Deutsche, Belgier, Briten, Iren, Franzosen, Spanier und Skandinaven wurden vernommen. Italien durfte ich mir schenken, da die Neue Freie Presse in dankenswerter Kollegialität dieses Stück meines Werkes auf sich nahm. (214)
Woraus Greive folgert:
Obwohl in der "Neuen Freien Presse" im Zusammenhang mit keinem der drei Beiträge der Name Bahrs genannt wird, ist es doch wahrscheinlich, daß sich hinter dem "Übersetzer", der sich als Initiator der Befragung vorstellt, Hermann Bahr verbirgt. (11)
Greive bedauert, keinen weiteren Aufschluss liefern zu können, da das Archiv der "Neuen Freien Presse" nichts ergäbe.
War nun Bahr der "Initiator" der Interviews? Nein, höchstwahrscheinlich nicht.
Bahr war, wie schon zuvor mit der Interviewreihe zum "Neuen Stil", dem Vorbild der Enquêtes gefolgt, die Jules Huret zuerst im "Echo de Paris" (für "L'Enquête sur l'évolution littéraire" gab es 64 Interviewpartner) und dann im "Figaro" publizierte. Er popularisierte diese Form im deutschsprachigen Raum, konnte sich aber nicht als Erfinder der Gattung fühlen. War er der "Presse" ein Begriff? Selbstverständlich, aber in Maßen: Am 20. Jänner 1893, nur kurz vor den Interviews, berichtet er seinem Vater, dass es nun nicht einmal mehr der "Neuen Freien Presse" gelänge, ihn zu ignorieren. Das ist schöngeredet, denn Bahr kommt im Feuilleton seines Freundes Otto Julius Bierbaum vor und nicht im Nachrichtenteil. Richtig erwähnt – neun Spalten – wird er erst am 7. März 1897, auch das schreibt er voller Aufregung an seinen Vater (8.3.1897). Das gibt einen Eindruck davon, wie wichtig Bahr die "Neue Freie Presse" als Zentralorgan der österreichischen Publizistik war. Seinem Vater weiß er auch zu berichten, dass er ein (vermutlich loses) Angebot zur Mitarbeit 1895 bekam, ein ausformuliertes 1897. Er soll aber seinem Vater nicht berichtet haben, dass er für die "N.F.P." italienische Interviews verfasste? Vor allem stellt sich die Frage, warum die "dankenswerte Kollegialität" sich nicht nur auf den – anonymem – Abdruck der Interviews in der Zeitung bezogen haben sollte. Müsste Bahr nicht alles daran setzen, die Interviews in der Buchausgabe vollständig zu bringen und hätte er das nicht zuletzt deswegen getan, da sie einen beruflichen Triumph darstellen würden? Zusammenfassend: Bahr hat sich die italienischen Interviews wie er es selbst nennt, "geschenkt" und ist nicht der Verfasser. Aber wie Greive auch sagte, selbst wenn sie nicht von Bahr stammten, sind sie eine lesenswerte Ergänzung. Nachzulesen in seiner Ausgabe des "Antisemitismus" oder über
Anno.
Interview | #, Morgenblatt | Datum |
Cesare Lombroso | 10344 | 11. Juni 1893 |
Enrico Ferri | 10407 | 13. August 1893 |
| 1409 | 15. August 1893 |
Paolo Mantegazza | 10448 | 23. September 1893 |
| 10449 | 24. September 1893 |