Auf 29. März 1892 datiert die erste Erwähnung Bahrs, die von Peter Altenberg erhalten ist: Er hatte eine Karte für dessen Vorlesung „Freie Mystik“ – ist aber nicht hingegangen.(1 Die nächste Nennung stammt vom 4. Juli 1894. Da schreibt er an seine Schwester Gretl:
Mögen sich LeserInnen der Rundfrage in der Österreichischen Volks-Zeitung 1905 gedacht haben, Altenberg leiste Bahr Reverenz, so liest sich die Antwort nun anders. Nicht so sehr die Rolle des Entdeckers wird mit einem "Lichtblick" bedacht, sondern der Umstand, dass es sich als eine betrogene Hoffnung erwies. Altenberg erinnert sich daran, wie sehr er sich über die Einladung zur Mitarbeit in der "Zeit" freute und wird nicht vergessen haben, dass es umsonst war, dass auch weiterhin jahrelang - bis zum Juni 1898 - nichts von ihm Geschriebenes in ihr erschien.
Ich habe nur zwei Skizzen geschrieben, ,Wie wunderbar– –!‘ und ,Die Zuckerfabrik‘, welche allgemeinen Beifall hatten. Hermann Bahr schrieb mir: „Ich habe wieder Ihren Don Juan mit unendlichem Entzücken gelesen und wünsche sehr Ihre persönliche Bekanntschaft zu machen – – –.“(2Die persönliche Bekanntschaft verzögerte sich noch bis zum 30. Juni 1896.(3 Der Brief, auf den Altenberg anspielt, ist handschriftlich nicht erhalten. Ein Bruchstück eines frühen Briefes findet sich in in der Österreichischen Volks-Zeitung von 1905 und ist der Forschung bislang unbekannt. Hier soll gezeigt werden, dass es sich dabei um einen echtes Stück aus der Korrespondenz handelt und womöglich sogar aus dem selben Brief wie das Zitat entnommen ist. Im Juni 1905 bringt die Österreichische Volks-Zeitung(4 eine Rundfrage über ersten Erfolg, an der sich auch Altenberg beteiligt. Seine Antwort besteht aus drei Briefen, „Lichtblicke“ übertitelt, von denen der zweite Zustimmung von Altenbergs Vater beinhaltet, der dritte eine Geldanweisung ist. Der erste "Lichtblick" ist ein Brief Bahrs:
Lieber Herr Altenberg, ich gebe am 1. Oktober eine Zeitschrift, Wochenschrift "Die Zeit" heraus. Bitte, senden Sie mir doch eine Ihrer zarten merkwürdigen Sagen, die Herr Hugo v. Hoffmannsthal [!] mir eines Abends aus den Manuskripten vorgelesen hat.Wenn dieser Brief genuin wäre, handelte es sich um die erste Kontaktaufnahme zwischen Altenberg und Bahr – und würde auch das anfängliche Verhältnis – dass Altenberg bei Bahr um Aufnahme von Texten in der „Zeit“ bettelt – umdrehen. Zuerst der Versuch einer Datierung: Im Mai 1894 wird der Gesellschaftsvertrag der „Zeit“ unterschrieben. Im Juni 1894 ist Bahr eifrig auf der Suche nach Autoren, am 30. Juli steht fest, dass die erste Nummer nicht am 1.10. sondern am 5. – letztlich wird es der 6.– Oktober erscheinen wird.(5 Das lässt den Brief ungefähr auf Juni/Juli 1894 datieren – in etwa zeitgleich mit Bahrs Wunsch nach persönlicher Bekanntschaft. Altenberg war nachlässig beim Aufbewahren seiner Korrespondenzen.(6 Trotzdem zitiert er 1913 in seinem Text „So wurde ich“ im Zuge einer Darstellung seiner ersten Erfolge einen analogen Brief zu dem der Rundfrage.
Ergebenst
Hermann Bahr
Ich saß im 34. Jahre meines gottlosen Lebens, Details kann eine Tageszeitung unmöglich bringen, ich saß im Café Central, Wien, Herrengasse, in einem Raume mit gepreßten englischen Goldtapeten. Vor mir hatte ich das 'Extrablatt‘ mit der Photographie eines auf dem Wege zur Klavierstunde für immer entschwundenen fünfzehnjährigen Mädchens. Sie hieß Johanna W. Ich schrieb auf Quartpapier infolgedessen, tieferschüttert, meine Skizze "Lokale Chronik". Da traten Arthur Schnitzler, Hugo von Hofmannsthal, Felix Salten, Richard Beer-Hofmann, Hermann Bahr ein. Arthur Schnitzler sagte zu mir: "Ich habe gar nicht gewußt, daß Sie dichten!? Sie schreiben da auf Quartpapier, vor sich ein Porträt, das ist verdächtig!" Und er nahm meine Skizze "Lokale Chronik" an sich. Richard Beer-Hofmann veranstaltete nächsten Sonntag ein "literarisches Souper" und las zum Dessert diese Skizze vor. Drei Tage später schrieb mir Hermann Bahr: "Habe bei Herrn Richard Beer-Hofmann Ihre Skizze vorlesen gehört über ein verschwundenes fünfzehnjähriges Mädchen. Ersuche Sie daher dringend um Beiträge für meine neugegründete Wochenschrift ,Die Zeit‘!“(7Einerseits bestätigt das die Annahme einer ersten Kontaktaufnahme durch Bahr. Andererseits sind die Ungenauigkeiten und chronologischen Fehler relevant: Sollte Bahr zweimal den inhaltlich gleichen Brief geschrieben haben? Das ist wenig wahrscheinlich, wenn man bedenkt, dass Altenberg willig war, ihm Texte zu geben. Zugleich erschien aber bis 1898 kein Text von P.A. in der „Zeit“. Handelt es sich aber um den gleichen Brief, so ist eine Datierung auf November(8 1894 unhaltbar, da zu diesem Zeitpunkt die „Zeit“ bereits im zweiten Monat erschien und ein Text Altenbergs bereits abgelehnt wurde.(9 Wollte man das Ereignis datieren, so existieren heute andere Quellen, die es erlauben. Chronologisch gereiht, ab Anfang 1894: Am 25. Februar 1894 erwähnt Schnitzler in seinem Tagebuch, bei Beer-Hofmann gewesen zu sein, wo Hofmannsthal Eigenes, Beer-Hofmann aber Altenberg vorgetragen habe.(10 Vorgetragen wurde unter anderem „Don Juan“.(11 Eine Anwesenheit Bahrs ist nicht nachweisbar, aber Bahr spricht davon, dass ihm die Texte Hofmannsthal vorgelesen habe. Nach Altenbergs Selbstauskunft hatte dieser im Februar Texte von ihm bekommen.(12 Bahrs Rekurs Anfang Juli auf den „Don Juan“ zeigt, dass dieser in seinem Freundeskreis bekannt war. Zugleich datiert der Kontakt Schnitzlers mit Altenberg ebenfalls auf Anfang Juli.(13 So dass, zusammenfassend, die Version von „So wurde ich“ verworfen werden muss: Als teilweise fiktive Erzählung der Ereignisse. Zugleich aber stützen die Fehler in Altenbergs Wiedergabe von 1913 den Brief von 1905: Denn dass er sich an den genauen Erscheinungstermin der ersten „Zeit“-Nummer erinnerte, ist wenig wahrscheinlich. Dass sich der Austausch Bahr/Altenberg und Altenberg/Schnitzler auf Anfang Juli datieren lässt, lässt letztlich die Behauptung zu, es mit einem „echten“, wenngleich unvollständigen Brief Bahrs zu tun zu haben. Die Auskunft Altenbergs am 4. Juli 1894 einen Brief Bahrs erhalten zu haben, legt es nahe, nur von einem Brief Bahrs auszugehen, der womöglich als Original – mit den Kürzungen versehen – an die Österreichische Volks-Zeitung gereicht wurde und Altenberg deswegen für „So wurde ich“ nicht mehr zur Verfügung stand.
Mögen sich LeserInnen der Rundfrage in der Österreichischen Volks-Zeitung 1905 gedacht haben, Altenberg leiste Bahr Reverenz, so liest sich die Antwort nun anders. Nicht so sehr die Rolle des Entdeckers wird mit einem "Lichtblick" bedacht, sondern der Umstand, dass es sich als eine betrogene Hoffnung erwies. Altenberg erinnert sich daran, wie sehr er sich über die Einladung zur Mitarbeit in der "Zeit" freute und wird nicht vergessen haben, dass es umsonst war, dass auch weiterhin jahrelang - bis zum Juni 1898 - nichts von ihm Geschriebenes in ihr erschien.
Fußnoten
- Peter Altenberg: Die Selbsterfindung eines Dichters. Briefe und Dokumente 1892–1896. Hg. und mit einem Nachwort von Leo A. Lensing. Göttingen: Wallstein 2009, 13. Fortan als [Selbsterfindung]Der Brief falsch auf 30. datiert, mit der Vorlesung korrigiert. Vgl. Neue Freie Presse, #9912, Morgenblatt, 5. (29.3.1892)
- [Selbsterfindung], 22-23.
- Peter Altenberg an Gretl Engländer, Brief 28. Juni 1896, WstLB HS PA Abschr. 210 zit. Hermann Bahr und Peter Altenberg: Korrespondenz von Peter Altenberg an H. B. (1895-1913). Hgg. von Heinz Lunzer und Victoria Lunzer-Talos. In: Jeanne Bennay und Alfred Pfabigan, Hgg.: Hermann Bahr – Für eine andere Moderne. Bern: Peter Lang 2004, 249-262, hier: 231. Fortan als [PA/HB] Alternativ: [Selbsterfindung], 71.
- Peter Altenberg: Der erste Erfolg. Eine Rundfrage der "Österreichischen Volks-Zeitung". Österreichische Volks-Zeitung, 51 (1905) #160, 13-15, hier 13. (11.6.1905)
- Kostrbová, Lucie; Kurt Ifkovits; Vratislav Doubek: Die Wiener Wochenschrift Die Zeit (1894–1904) als Mittler zwischen der Tschechischen und Wiener Moderne. Prag, Wien: Masarykův ústav a Archiv AV ČR, Österreichisches Theatermuseum 2011, 284-294.
- [PA/HB], 221.
- Peter Altenberg: So wurde ich. Die Fackel, 15 (1913) #372/373, 24-25. (April 1913)
- Die Datierung durch Lunzer/Lunzer-Talos in [PA/HB], 222.
- [PA/HB], 228.
- Arthur Schnitzler: Tagebuch, 1893-1902, 71.
- Heinz Lunzer, Victoria Lunzer-Talos: Peter Altenberg. Extracte des Lebens. Einem Schriftsteller auf der Spur. Salzburg u.a.: Residenz 2003, 72.
- [PA/HB], 223.
- [Selbsterfindung], 23-24.